Berliner Initiative gegen Medikamentenmissbrauch

Mo 28. Juli 2014

5 Fragen an Kerstin Jüngling, Geschäftsführerin der Fachstelle für Suchtprävention Berlin, eine Tochtergesellschaft des Evangelischen Diakonievereins.

Die Fragen an Kerstin Jüngling stellte Miguel-Pascal Schaar vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband, Landesverband Berlin e.V.

Frau Jüngling, was genau ist die „Berliner Initiative gegen Medikamentenmissbrauch“?

Bei der Berliner Initiative gegen Medikamentenmissbrauch handelt es sich um einen Zusammenschluss von Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen: (Sucht-)Beratungsstellen, Entzugskliniken, Pflegeeinrichtungen, die beiden Berliner Fachstellen für Suchtprävention und für Prävention und Gesundheitsförderung, bezirkliche Gesundheitsverwaltungen und andere. Es ist ein Arbeitsbündnis, das sich etwa vierteljährlich trifft und gemeinsam Aktivitäten plant und umsetzt. Die Initiative ist offen für weitere Akteure und lädt projektbezogen Expertinnen und Experten aus weiteren Arbeitsfeldern beziehungsweise Organisationen, zum Beispiel Ärzte- und Apothekerkammer, Krankenkassen oder Altenpflege zur fachlichen Beratung ein. Darüber hinaus werden im Sinne partizipativer Verfahren Arbeitsergebnisse vor ihrer Veröffentlichung externen, relevanten Akteuren mit der Bitte um Feedback zur Kenntnis gebracht.

Wie kam es zu dem Zusammenschluss?

Die Idee entstand in einem Fachaustausch zwischen der Tempelhof-Schöneberger Frauensuchtberatungsstelle FAM / FrauSuchtZukunft und der Fachstelle für Suchtprävention Berlin. Das Bestreben war, die weit verbreitete und dennoch kaum beachtete Problematik des missbräuchlichen und abhängigen Konsums von Medikamenten stärker ins Blickfeld der (Fach-)Öffentlichkeit zu rücken. Die extreme Diskrepanz zwischen der großen Anzahl Betroffener (vergleichbar mit Alkoholabhängigen) und der geringen Inanspruchnahme professioneller Hilfe (laut deutscher Suchthilfestatistik weniger als ein Prozent der ambulant und stationär Behandelten) gab den Anstoß hierfür. Häufig sind sich die Betroffenen ihrer Abhängigkeit überhaupt nicht bewusst, da ihnen das Medikament ärztlich verordnet wird – umso wichtiger ist es, aufzuklären und für die Inanspruchnahme qualitativ hochwertiger Medikamentenberatungsstellen zu motivieren, um eine weitere Chronifizierung zu vermeiden.

Wie können Sie Berlinerinnen und Berlinern konkret helfen?

Informationen, Sensibilisierung und Risikomanagement stehen im Vordergrund. Die Initiative entwickelt zum Beispiel Informationsmaterialien, damit die Menschen in Berlin besser über potenzielle Suchtgefährdung durch Medikamente aufgeklärt sind. Darüber befördert sie mit der Sensibilisierung relevanter Berufsgruppen, zum Beispiel Pflegekräfte sowie Pflegeberaterinnen und –berater, eine größere Aufmerksamkeit für das Thema, so dass ein verantwortungsvoller Umgang unterstützt und frühestmögliche Intervention ermöglicht wird. Es werden beispielsweise Pflegeeinrichtungen angeschrieben, über die Problematik informiert und auf Interventionsmöglichkeiten hingewiesen. Selbstverständlich können sich auch Privatpersonen selbst mit ihren Fragen an Vertreterinnen und Vertreter der Initiative wenden.

Nach dem Bundesdrogen- und Suchtbericht wird die Anzahl der Arzneimittelabhängigen in Deutschland auf 1,4 bis 1,5 Millionen geschätzt – manche gehen von 1,9 Millionen in der Erwachsenenbevölkerung aus. Wie schätzen Sie die Zahlen in Berlin ein und welche Entwicklung beobachten Sie?

Grundsätzlich kann und muss sich Berlin am Bundesdurchschnitt orientieren. Das wären auf die Bevölkerungsgröße heruntergerechnet circa 60.000 und 80.000 Betroffene in Berlin. Hinzu kommt, dass in unserer Stadt ein großer Anteil von Bevölkerungsgruppen mit Zuwanderungsgeschichte lebt, die kulturell geprägt eine unterschiedlich hohe Akzeptanz von Medikamenten haben. Auch bietet eine Großstadt im Vergleich zu ländlichen Gegenden eine vereinfachte Möglichkeit, sich Medikamente parallel von unterschiedlichen Medizinerinnen und Medizinern ohne weite Wege verschreiben zu lassen, so dass die Gefahr besteht, dass Medikamentenmissbrauch und -abhängigkeit leichter unentdeckt bleiben.

Bei der Medikamentenabhängigkeit hat die Stoffgruppe der Benzodiazepine die größte Relevanz. Ergebnisse epidemiologischer Untersuchungen zeigen, dass überdurchschnittlich häufig Frauen betroffen sind, auch gibt es einen exponentiellen Anstieg mit zunehmendem Alter.

Wenn etwa zwei Prozent der Bevölkerung manifeste Probleme mit Medikamenten aufweisen, ist das für die Prävention ein handfester Grund zu handeln! Schaut man auf den „Fehlzeitenreport“ 2013, wird darüber hinaus die Relevanz von Medikamentenmissbrauch auch für das Berufs- und Arbeitsleben deutlich.

Sie haben 2013 einen Forderungskatalog veröffentlicht. Welche Schwerpunkte haben Sie darin gesetzt und wie hat die Öffentlichkeit und die Politik darauf reagiert?

Der von der Berliner Initiative gegen Medikamentenmissbrauch im Konsens aufgestellte Forderungskatalog adressiert unterschiedliche Ebenen und Bereiche. Warnhinweise auf Medikamentenpackungen, sensibilisierte Krankenkassen und fortgebildetes ärztliches und pflegendes Personal sowie die Bereitstellung auch finanzieller Ressourcen sind zentrale Elemente.

Positiv ist hervorzuheben, dass wir damit über Berlin hinaus eine Fachdiskussion angeregt haben. Strukturelle Veränderungsschritte und ein gesellschaftliches Umdenken, also verhältnispräventive Aspekte, sind dagegen schwerfälliger in Gang zu bekommen. Da Medikamente scheinbar selbstverständlich auch zur Leistungssteigerung beziehungsweise zur Aufrechterhaltung des Funktionierens eingesetzt werden und Beschaffungskriminalität im Vergleich zu illegalen Drogen keine relevante Rolle spielt, hat die Prävention und Behandlung der legalen und sogenannten stillen Sucht in der (fach-)politischen Debatte scheinbar noch keine Lobby. Dies zu verbessern bleibt für uns in der Berliner Initiative Herausforderung und Ansporn zugleich!

Das Interview wurde auf der Seite des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Landesverband Berlin e.V. am 23.7.2014 veröffentlicht.


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