Ehrenamt in der Diakonie Haltestelle

Ein Ehrenamt wird nebenberuflich ausgeübt. Das erklärt die zahlreichen Seniorinnen und Senioren, die sich ehrenamtlich engagieren und ohne die es vor allem in kulturellen und sozialen Bereichen zu deutlichen Engpässen käme. So gehören die „Ehrenamtlichen“ der Diakonie daher auch meistens zu den älteren Semestern. Die Tatsache, dass die Diakonie den Ehrenamtlichen die Aufgabe überträgt, schwache und hilfsbedürftige Menschen zu besuchen und sie zu unterstützen, bedeutet in erster Linie, großes Vertrauen in die Ehrenamtlichen zu setzen, von Seiten der Diakonie als auch von den „Patient*innen“, in deren Privatsphäre wir eindringen. Das ist eine Ehre für uns. Ob der Lohn für die Ausübung des Ehrenamtes, Ehre zu erhalten, geehrt zu werden ist, sei dahingestellt.

Die Besuche bei älteren, aber auch jüngeren Menschen, die auf Hilfe oder Ansprache angewiesen sind, sollen verhindern, dass diese in Einsamkeit versinken und ihre Lebensfreude verlieren. Wir kommen dort als Ehrenamtliche in Haushalte, um auf vielerlei Weise zu helfen, aber wir erhalten auch vielerlei zurück. Häufig entwickelt sich ein ganz persönliches Vertrauensverhältnis, sodass nicht nur tatkräftiger Einsatz vonnöten ist, sondern es kann sich auch ein Gedankenaustausch auf Augenhöhe entwickeln, der beide Seiten bereichert. Dennoch ist es meistens wichtig, eine gewisse emotionale Distanz zu den Menschen zu bewahren, damit man ihnen sinnvoll helfen kann.

So besuche ich seit mehreren Jahren eine alte, blinde Dame, die geistig ungewöhnlich rege und produktiv ist. Ich gehe jede Woche gerne zu ihr hin. Immer ergeben sich Themen, die in der Diskussion vertieft werden. Ich öffne ihre Briefe, lese sie vor oder ordne Papiere. Wichtig sind für sie die Begleitzettel der zahlreichen Medikamente, die ich ihr sorgfältig vorlesen muss. Aber auch Gebrauchsanweisungen von Apparaten wie elektrischer Zahnbürste oder Blutdruckmessgerät werden detailliert vorgelesen. Ihr Gedächtnis ist phänomenal. Durch sie habe ich auch gelernt, mehr auf die Belange von Sehbehinderten zu achten. Sind die Stufen im öffentlichen Raum sichtbar markiert? Wie sind in den Aufzügen der Ämter oder der U- und S-Bahnen z.B. die Knöpfe der Tableaus angeordnet und markiert? Wo sind notwendige Haltegriffe und Geländer angebracht? Auf diese Weise nehme ich unsere Umgebung mit den Augen hilfsbedürftige Menschen wahr.

Selbst Besuche bei Alzheimerkranken, die häufig eine besondere Herausforderung sind, können positive Aspekte haben. Ich erinnere mich an einen Herrn in den 70ern, mit dem ich hauptsächlich spazieren ging. Sein Gedächtnis war mehr als reduziert. Ich weiß noch, wie ich mich gefreut habe, als er einen Straßennamen las und auf einmal sagen konnte, wer diese Persönlichkeit gewesen war. Mit ihm bin ich auch gerne in ein Museum gegangen, und wir haben uns gegenseitig aufmerksam gemacht, welches Bild wir besonders schön finden und mit nach Hause nehmen würden.

Schwieriger wird es, wenn der Leidensdruck deutlich ist. Aber auch hier können sich positive Beziehungen entwickeln, wenn z.B. die Person sich ihrer Situation bewusst ist und diese akzeptiert. Dies hat mir bei einer von Alzheimer betroffenen Ärztin ungeheuer imponiert. Es hat mir gezeigt, dass ein sich fügen in das unabänderliche Schicksal eine große charakterliche Stärke und möglich ist. Die Frau läuft jeden Tag stundenlang, als könne sie ihrer Krankheit davonlaufen. Aber wenn sie mich sieht, freut sie sich richtig und ich freue mich auch. Das ist für mich auch eine Bestätigung, dass mein Einsatz auf „fruchtbaren Boden“ fällt und entschädigt mich für schwierige Momente.

Es gibt auch viele amüsante Begebenheiten, die ich nicht vergessen werde. Frau H. war mir auf der Straße aufgefallen, sie sah unordentlich und schmutzig aus, hatte aber eine gewisse Haltung. Ich fragte sie, ob ich ihr die schwere Tasche nach Hause tragen dürfte (die Begebenheit ist lange her). Sie willigte ein und ich brachte die Tasche bis an die Haustür, sagte aber gleichzeitig, weiter wolle ich nicht ins Haus. Es entwickelte sich eine stetige Beziehung. Freitags bin ich zu ihr gegangen, habe gefragt, was ich einkaufen solle: Immer bei Penny einen großen Laib Brot, Margarine, Marmelade etc. Immer das billigste. Ich habe alles an der Wohnungstür abgeliefert und das Geld erhalten. Nach Monaten durfte ich dann in die verwilderte Wohnung und konnte etwas aufräumen. Frau H. war über 90 Jahre, hatte nur eine 96-jährige Schwester, die weit entfernt wohnte. Bald kannte ich die gesamte Familiengeschichte bestens, wurde, als sie ins Krankenhaus kam, ihre offizielle Betreuerin und fand auch ein Altenheim für sie. Dort durfte sie sich zu Weihnachten ein Lied bei der Weihnachtsfeier wünschen: So haben wir gemeinsam „O Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter…“ gesungen. Unvergesslich. Ihre Schwester, die angedroht hatte zu kommen, um nach dem Rechten zu sehen, starb noch vor ihr, sodass ich zwei Haushalte auflösen musste. Da sie ihr Vermögen der Kirche vermacht hatte „für den Brunnenbau“, habe ich für sie noch einen besonders schönen Grabstein errichten lassen.

Frau S. – sehbehindert, über 80 Jahre alt – war anfangs schon sehr speziell. Sie war mir vermittelt worden über eine kirchliche Organisation. Erst machte sie die Wohnungstür nicht auf, sondern beschimpfte mich lauthals. Als ich dann die Wohnung betreten durfte, wusste ich nicht, wo ich mich hinsetzen konnte, es war alles schmierig. Nachdem ganz vorsichtig etwas Grund in die Wohnung gebracht worden war, entdeckte ich im Schlafzimmer einen Persianer, in dem es „wimmelte“. Es hat lange gedauert, bis ich ihn entsorgen durfte. Ein ähnliches Bild bot sich in einer Schublade mit Wollknäulen. Da kam Mottenpulver rein. Frau S. hat sich die ersten Jahre nicht bedankt. Da ich auch hier wieder die einzige war, die sich kümmerte und Frau S. Vertrauen zu mir gewonnen hatte, übertrug das Gericht mir die Pflegschaft. Auch für Frau S. fand ich ein sehr schönes kirchliches Altenheim, in dem sogar ihr Wohnzimmerschrank und ein Sessel Platz hatten. Die Schwestern dort brachten sie im Sommer in den Garten, dort saß sie mit den anderen Bewohnern zusammen und schwieg meistens. DANN, IRGENDWANN, ALS ICH NACH EINEM BESUCH WIEDER GEHEN WOLLTE, SAGTE SIE LEISE ZU MIR: „DANKE“

Ein Beitrag von: Dr. Marie-Theres Suermann, ehrenamtlich tätig in der Diakonie Haltestelle in Berlin-Zehlendorf (seit März 2017)


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